„Dornröschen wird erweckt“
Der Bauhistoriker Frank Hoffmann, der vor der Sanierung der Langenstraße 23 eine umfangreiche Dokumentation über den Zustand und die Geschichte des Hauses erstellt hatte, schrieb: „Das Gebäude ist der letzte Teil einer Gruppe von drei barocken Giebelhäusern, … die nach der Zerstörung durch den Beschuss 1678 (durch den großen Kurfürsten) und nach dem großen Stadtbrand 1680 in den Folgejahren wieder aufgebaut wurden. Die beiden Nachbarhäuser sind innerhalb der letzten 30 Jahre bereits zu unterschiedlichen Zeiten abgetragen worden.“
Früher war es ein zweigeschossiges Giebelhaus mit Volutengiebel aus dem Mittelalter – noch zu erkennen im Kellerbereich, im Erdgeschoss und in den Brandmauern. Reste sind auf dem Staudeplan von 1647 zu sehen und wurden 1680 beim Wiederaufbau verwendet. Der Tischler Heinrich/ Hinrik Broder kaufte das Haus und baute es im barocken Stil wieder auf. Er vererbte es seinem Sohn, Hans Broder, der ein bekannter Kunsttischler und Bildhauer wurde (möglicherweise ein Enkel von Hans Lucht, Erbauer der Kanzel in der Jakobikirche). Bekannte Arbeiten von ihm sind die Altaraufsätze in Brandshagen und Zudar (1707), die Kanzeln in den Rügener Kirchen St. Petri in Garz und u. a. in Schaprode (1722); dort schuf er ebenso einen Beichtstuhl zusammen mit dem Maler E. Rose.
Zwischen 1767 und 1802 wurde das Haus mehrfach umgebaut, verschönert und erfuhr dadurch eine Wertsteigerung um das fünffache von 700 auf 3800 Reichstaler. In den folgenden Jahren besaßen – laut Stadtarchiv – ein „Pelzer, ein Perückenmacher und ein Goldschmied“ das Haus. Um 1901 erfolgte ein Umgestaltung der Fassade, bei dem der barocke Charakter der Fassade stärker herausgearbeitet wurde.

1945 war die Pommersche Eisengießerei Besitzer; es erfolgten keine großen baulichen Veränderungen mehr.
Nach dem Krieg wurde es als Wohnhaus genutzt und verfiel nach der Wende zunehmend, wurde nur durch ein „Stützkorsett“ in allen Geschossen am Zusammenbruch gehindert.

Das Bürgerkomitee Stralsund, welches alle erhaltenswerten Denkmale katalogisierte, bezeichnete es als „schönste Ruine Stralsunds“.
So kaufte mein Sohn 2010, der zwar in Bayern lebte, aber eine Mutter hatte, die auf Rügen geboren wurde, und als Kind oft die Schulferien in Stralsund verbrachte, diese Ruine.

Er wusste noch nichts von den bekannten Vorbesitzern, hatte jedoch die Vision, das alte Haus „aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken“ und seinen Beitrag an der Wieder-auferstehung Stralsunds zu leisten (Ich als Mutter habe ihn unterstützt, sein Geld in Stralsund, der Stadt, die es als Weltkulturerbe wert sei und die ich sehr liebte, zu investieren.)
Ich war 2002 aus Bayern in die Nähe von Stralsund gezogen, hatte den ehemaligen Bauernhof meines Großvaters nach der Wende zurückbekommen und mit viel Liebe restauriert. Diese Erfahrung beflügelte mich, meinen Sohn zu ermutigen, die Ruine zu retten. Wir wussten beide nicht, was auf uns zu kam, hatten das Haus zunächst nur von außen gesehen. Nachdem mein Mann und ich das Innere in Augenschein genommen, d.h. uns durch das Stützkorsett hindurchgezwängt hatten, verließ uns zunächst der Mut. Ich hatte meinem Sohn angeboten, ihn vor Ort zu unterstützen bzw. als Bauherren zu vertreten. Wir kamen uns vor wie Archäologen, die in einer Grabkammer auf den Spuren der Jahrhunderte nach Schätzen suchten, was mich aber immer mehr faszinierte. So wollte auch ich meinen Beitrag zur Erweckung des Dornröschens leisten; meinen Mann hatte ich auch als Fotografen an meiner Seite.
Nachdem ich den Architekten Herrn Reimann und sein Team gefunden hatte, machte er erste Entwürfe für die Gestaltung des Hauses. Jedoch im ersten Schritt wurde zunächst erst einmal nur abgerissen und das zu Erhaltene freigelegt. Die Archäologen begannen im Kemladen (früher Arbeits- und Wohnräume) zu buddeln und gruben schöne Keramikfragmente frei; es hatte dort wohl ehemals ein Töpfer seine Werkstatt.



Dann übernahmen die Denkmalpflege und später der Brandschutz (Herr Beyer bescherte uns z.B. auch einen „Stadtbalkon mit Yachtreling“ als Rettungsweg im Dachgeschoss) mit vielen Auflagen die Baustelle. Zu guter Letzt mussten leider noch viele Pfähle für die Gründung in den Boden gebohrt werden, eine aufwendige und kostspielige Sache. Aber noch nicht genug damit, der Holzgutachter Herr Metzner schockte uns noch mit der Mitteilung, im Holz und im Mauerwerk sei der Schwamm; folglich mussten die Außenmauern alle 30 cm mit einer Flüssigkeit geimpft werden. Manchmal verlies mich der Mut und ich hatte Mühe, meinem Sohn wieder etwas von Mehrkosten und Zeitverzögerung zu sagen. Aber wir bekamen Hilfe von der SES, die einige Fördermittel zum denkmalgeschützten Haus weitergab.

Spannend war auch der Keller des Hauses in 3 Schichten übereinander. In einer Schicht fanden wir noch einen Amboss und Reste von Eisen. In der mittleren Fußbodenschicht gab es Feldsteine und dazwischen 3 Kanonenkugeln, die ich gerettet habe. In der letzten Kellerschicht hinter einer Brandwand zeigte sich ein Hohlraum, zunächst wie ein Wandschrank. Nachdem mehrere Schichten freigelegt waren, entdeckten wir einen Gang/ Geheimgang, der am Ende des Kemladens nicht weiter zu verfolgen war. Herr Hoffmann meinte, es sei möglicherweise ein Fluchtweg oder Notausgang.

Als alles entkernt war, konnten wir vom Keller über 4 Etagen bis ins Dach in den Himmel gucken. Die Balken waren noch zu gebrauchen, die Dachziegel retteten wir ebenfalls.
Der Kemladen sollte erhalten bleiben, d.h. nur die 2 alten Mauern aus dem Mittelalter mit Rundbögen; dort hinein wurde ein Neubau über 2 Etagen errichtet.
Geplant waren insgesamt 6 Wohnungen, von Nord nach Süd ausgerichtet – nur dort konnten die alten Fensteröffnungen wieder hergestellt werden, da rechts und links sogenannte Brandwände waren; in diese durften auch heute keine Fenster eingebaut werden. Das Architektenteam stand vor der Herausforderung, trotzdem genug Licht in die Wohnungen zu bringen, da nur im Dachgeschoss Dachfenster für genügend Helligkeit sorgten. Dafür hatte aber jede Wohnung einen schönen Balkon erhalten; es gab sogar eine große Dachterrasse zur Südseite in einer Wohnung der – Beletage – (mit Blick auf die Marienkirche), in der Herr Thormeier, noch schöne alte Tapetenreste fand. Diese hängen nun von ihm restauriert im Treppenhaus.
Natürlich ging nicht alles glatt, von gestohlenen Schornsteinköpfen über Lieferschwierigkeiten, Estrich, der nicht rechtzeitig getrocknet war und vieles mehr. Trotzdem lagen wir gut im Zeitplan, wollten im Frühsommer 2012 die Wohnungen fertiggestellt haben. Die ersten Mieter sollten einziehen.
Dann die 1. Katastrophe: ein Wassereinbruch vom Nebengebäude überflutete eine Wohnung im 1. Stock, in der grade der neue Parkettfußboden gelegt worden war; das bedeutete noch eine längere Verzögerung und erneute Trocknung. Damit aber nicht genug, etwas später war nach einem Starkregen auf der schönen Dachterrasse im 2. Stock ein Schwimmbad: das flexible Abflussrohr war von Handwerkern vergessen worden, wieder in die Regenrinne zu stecken.
Aber am 1. Juli 2012 konnte Familie Fromme als erste Mieter einziehen – durch ein allerdings noch unfertiges Treppenhaus.
Danke an Herrn Reimann und die Baufirmen, die wohl alle Blut geleckt hatten und sich mit großem Eifer in die manchmal unlösbar scheinende Aufgabe stürzten.
Mein Sohn hatte auch das Nachbargrundstück kaufen müssen und wagte sich einige Monate später daran, diese Kellerruine ebenfalls zu bebauen: die Langenstraße 24 / Ecke Jacobichorstraße.
Nach so guten Erfahrungen waren natürlich auch Herr Reimann und die Baufirmen wieder mit im Boot. Nach vielen Entwürfen (Es musste eine passende Ecklösung gefunden werden, zumal die Jacobichorstraße eng und schmal war) war die Planung für 4 Maisonette-wohnungen fertig. Das I-Tüpfelchen kreierte Herr Reimann, indem er durch eine Außentreppe beide Häuser miteinander verband – licht und offen – und so den Zugang zu den einzelnen Etagen des neuen Hauses ermöglichte. Alt und Neu wurden so zu einer Einheit zusammengefügt und der Gestaltungsbeirat stimmte Lobeshymnen an.
Es entstanden 4 „Häuser“ in einem Haus (wie ein Legosystem). Jedes hatte eine Etage mit Balkon/ Dachgarten und eigenem Eingang. Ich hatte die Idee, einen kleinen Innenhof mit einem Hausbaum in der Mitte der beiden Häuser zu gestalten; hier konnten sich die Bewohner zum gemeinsamen Treffen und Grillen treffen.
Auch in diesem Haus hatte jede Wohnung einen Keller, in dem das Mittelalter zu erkennen war. Das ganze Ensemble war wie 2 Würfel – nur zum Platz der Eisengießerei hin offen, mit einem bepflanzten Stahlzaun begrenzt. Zur Jacobichorstraße gab es große durchlässige Schiebetüren (Ich hatte sie in Schweden gesehen und war begeistert.), hinter denen sich 2 überdachte Parkplätze befanden.
Nach ca. einem Jahr – 2014 – war auch das 2. Haus fertig und das Eckgrundstück Langenstraße/ Jacobichorstraße war geschlossen, das Kunststück geglückt: „Neues Wohnen in alten Mauern“.
Mein Sohn war sehr mit den Häusern und ihrer Entstehungsgeschichte verbunden, reiste immer wieder von Erlangen nach Stralsund, um Entscheidungen zu treffen und den Baufortschritt zu erleben.
Ich denke, er hat sich mit diesen Häusern ein „Denkmal“ gesetzt. Alle Menschen, die die „Erweckung des Dornröschens“ (seine Worte bei der Koggensiegelverleihung) mitgestaltet und miterlebt haben, werden diese besondere Geburt nicht vergessen. Ich habe sie mit Leib und Seele begleitet.
Mein Sohn Dirk Heidenreich starb 2023 in Erlangen.
Karin Heidenreich-Lemmel